SPAZIEREN
Frühling im Landschaftsgarten
„Alles erscheint Natur, so glücklich ist die Kunst versteckt.“
(Christian Cay Laurenz Hirschfeld, Gartentheoretiker)
Ein Tag im Mai. Es ist etwas bewölkt und die Sonne gibt sich alle Mühe durch die Wolkendecke hindurch zu scheinen. In der Stadt ist die Luft etwas drückend. Nicht jedoch im Bergpark Wilhelmshöhe. Hier ist es recht angenehm. Ich sitze auf einer Bank vor der Eremitage des Sokrates und frage mich, ob die Entstehung des englischen Landschaftsgartens und seine Stilelemente für meine Leserinnen und Leser interessant ist oder wie ich das Thema aufziehen kann, damit du nicht genau hier aufhörst zu lesen.
Während ich die Aussicht auf die Stadt Kassel genieße und mich an dem satten Maigrün erfreue, stelle ich fest, dass ich mitten in einem wundervollen Vogelkonzert sitze. Jegliche Zivilisationsgeräusche sind nur am Rande wahrnehmbar. Als mir das bewusst wird, fallen mir einige besondere Erlebnisse im Bergpark Wilhelmhöhe ein. Ein Reh, das dicht an mir vorbei spaziert. Ein Eisvogel, der über das Wasser der Peneuskaskaden unterhalb des Aquädukts fliegt. Die bunten Blumenwiesen mit Schlüsselblumen, Orchideen, Teufelskralle, Margeriten und vielen anderen, teilweise seltenen Arten. Hattest du auch schon solche besonderen Naturerlebnisse im Park?
Im Landschaftsgarten im Bergpark Wilhelmshöhe sind Kultur und Natur auf eindrucksvolle Weise miteinander verwoben und manchmal vergisst man, dass man sich eigentlich im Stadtgebiet befindet. Dies möchte ich dir nun in einem virtuellen Spaziergang zeigen und dir dabei ein wenig über die Gestaltung des englischen Landschaftsgartens berichten.
Der englische Landschaftsgarten
Ausgehend von England, begann im 18. Jahrhundert ein bedeutender Wandel in der Gartengestaltung, eine wahre Stilrevolution. Die strenge Geometrie und die Symmetrie des Barockgartens wurden zugunsten geschwungener Wege und sich abwechselnden Wald- und Wiesenflächen aufgehoben. Unerwartet öffnen sich Sichtachsen und führen den Blick auf Ruinen, Tempel oder in die den Park umgebende Landschaft. Die Stilelemente des Landschaftsgartens sind vielfältig und meistens von der Natur abgeschaut.
Es sind verschiedene Faktoren, die zu diesem Wandel führten. Diese hier aufzuführen würde zu weit führen. Wesentliche Aspekte waren jedoch das neue Naturverständnis und der wachsende Fortschritt in den Naturwissenschaften. Das Zeitalter der Aufklärung hatte somit einen wesentlichen Einfluss auf die Gestaltungsveränderung.
Der erste Landschaftsgarten wurde von Fürst Franz, Leopold III Friedrich Franz von Anhalt-Dessau in Wörlitz beauftragt und zwischen 1769 und 1773 angelegt. Das Gartenreich Dessau-Wörlitz wurde ebenso in die Liste der UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen, wie der Bergpark Wilhelmshöhe.
Spaziergang im Bergpark Wilhelmshöhe
Chinamode im Landschaftsgarten – Pagode im Mulang
Wir starten unseren Spaziergang durch den Landschaftsgarten im Mulang an der Pagode. Die chinesisch anmutende Pagode ist das Herzstück des Parkdorfs Mulang. Den Gedanken an Arkadien, dem Synonym für einen Schauplatz glückseligen, idyllischen, scheinbar einfachen Landlebens, träumten viele Fürsten und ließen in ihrer Parkanlage ein Dorf in exotischem Stil errichten. So auch Landgraf Friedrich II. auf dem Weißenstein, der heutigen Wilhelmshöhe. Um die Exotik der Architektur zu unterstreichen, lebten und arbeiteten in den Häusern an der heutigen Mulangstraße nachweislich Schwarze. Sie trugen zur Versorgung des Schlosses mit Lebensmitteln bei.
Unterhalb der Pagode siehst du das Küchenhäuschen, welches zusammen mit dem noch vorhandenen Milchhäuschen und einem Speisesaal die Meierei in Mulang bildete. Wir verfolgen den Weg in Richtung Küchenhäuschen und biegen links auf den Weg ab. Hinter der nächsten Rechtskurve siehst du schon den Taschentuchbaum. Im Mai wird er dir besonders ins Auge fallen, da die Scheinblüten wie weiße Taschentücher im Baum hängen. Sollte der Taschentuchbaum nicht mehr blühen, so erfreue dich an der Aussicht über die Roseninsel auf den Schlossteich Lac.
Sichtachsen zur Eremitage des Sokrates
Folge nun dem Weg in Richtung Fontänenteich. Hinter der Gehölzfläche liegt zu beiden Seiten des Weges eine Wiesenfläche, auf der im Frühjahr die Schlüsselblumen und Orchideen und im Herbst die Herbstzeitlosen blühen. Der Blick auf den Weißensteinflügel ist aktuell, wegen der Sanierung, nicht ganz so ansehnlich. Dafür befindet sich etwas weiter auf der linken Seite ein besonderer Baum. Er hat die Zahl 307 aufgemalt und ist eine Eichenblättrige Hainbuche. Diese Hainbuche ist eine Mutation, die im Bergpark mehrfach vorkommt und schon 1851 in der Verkaufsliste der Wilhelmshöher Baumschule aufgeführt wird. Neben den Blättern, die wie Eichenblätter aussehen, gibt es auch Zweige mit Blättern der Ursprungsform. Die Eichenblättrige Hainbuche lässt sich nur vegetativ, also zum Beispiel über Stecklinge vermehren. Im Park findest du viele weitere interessante Bäume, die allesamt in einer Parkbroschüre beschrieben sind.
Wir verfolgen den Weg weiter und hören bald das Wasser rauschen. Hinter dem Seearm spazieren biegen wir rechts ab in Richtung Fontänenteich. Nun solltest du wieder aufmerksam sein. Hier öffnet sich linker Hand über die Wiese, der Blick zuerst auf die Eremitage des Sokrates und etwas weiter durch die Wolfsschlucht auf die Löwenburg. Vom Burggraben der Löwenburg ausgehend sollte hier einst ein Wasserfall herunter rauschen, der seines Gleichen gesucht hätte. Trotz ausgereifter Pläne wurde diese Idee nie realisiert.
Sentimentale Einflüsse im Landschaftsgarten – Jussowtempel am Fontänenteich
Sobald sich die Sicht durch die Bäume auf den Fontänenteich öffnet, sieht man die Spiegelung des Jussowtempels darin. Besonders schön ist dies, wenn es windstill und der Himmel blau ist. An der Stelle des Jussowtempels war ursprünglich eine Ruine vorgesehen, die jedoch nach dem Bau des Aquädukts nicht gebaut wurde. Stattdessen wurde 1817 ein weißer Tempel errichtet. Wir durchqueren die Hauptachse, welche vom Herkules ausgehend zum Schloss und darüber hinaus in Form der Wilhelmshöher Allee bis in die Innenstadt reicht. Am Ende des Fontänenteichs fällt der Blick hängaufwärts über das Peneustal auf das Aquädukt. Wir spazieren weiter in Richtung Aquädukt, wobei wir uns an der Weggabelung links halten.
Vergils Grab
Etwa auf halber Strecke zum Aquädukt überspannt eine Brücke das Peneustal. Diese überqueren wir, da von hier der Blick auf das Aquädukt noch einmal besonders schön ist. Wir wollen zu Vergils Grab. Hinter der Brücke halten wir uns rechts und sehen schon bald im Wald das Grabmal. Die Nachbildung des Denkmals erinnert an den römischen Epiker, der Beschreibungen des glücklichen Hirtenlebens verfasste, aber auch ein Lehrgedicht vom Landbau. Beide Formen der Dichtung spiegeln sich im englischen Landschaftsgarten wider.
Aquädukt
Wir setzen unseren Weg weiter fort und spazieren rechts von Vergils Grab weiter zum Aquädukt. Hier setzt sich das Bild der Antike weiter fort. Die römische Wasserleitung ist scheinbar durch ein Erdbeben zerstört worden und steht nun als Ruine da. Sie ist Teil der romantischen Wasserkünste und an der Abbruchkante stürzen bei der Inszenierung mehrere Hundert Kubikmeter Wasser in die Tiefe. Die Ruine ist Ausdruck der Vergänglichkeit und zeugt gleichwohl von archäologischem Interesse, welches sich bereits im 15. Jahrhundert in ein ästhetisches verwandelte.
Mythologie im Landschaftsgarten – Höllenteich und Plutogrotte
Wir gehen unter dem Aquädukt hindurch und spazieren weiter bergauf in Richtung Höllenteich. Am nordwestlichen Rand des Höllenteichs überspannt eine schmiedeeiserne Brücke einen Bachlauf. Bei der Inszenierung des Wassers schwillt der Bachlauf zu einem reißenden Gebirgsbach an und stürzt unter der Brücke in die Tiefen des Höllenteichs. Im Hintergrund der Szenerie erhebt sich die Plutogrotte, die einst mit vielen verschiedenen Gestalten den scheinbaren Zugang zur Unterwelt markierte. Szenen der grichisch-römischen Mythologie waren tendenziell eher im Barockpark von Bedeutung. Die Plutogrotte stammt jedoch aus den Anfängen des englischen Landschaftsgartens.
Philosophie im Landschaftsgarten – Eremitage des Sokrates
Auf dem Weg zur Teufelsbrücke zweigen wir links ab und spazieren wieder durch ein Waldstück. Nach einigen Metern taucht plötzlich rechter Hand die Eremitage des Sokrates auf. Sie erinnert an den antiken Philosophen Sokrates, der durch strukturierten Dialog die Menschen zum selbstständigen Denken und einer eigenen Weltanschauung animierte. Dies wurde ihm jedoch zum Verhängnis und so lautete sein Urteil Tod durch den Schierlingsbecher. Die Eremitage ist ebenso wie das Parkdorf ein Sinnbild des einfachen Lebens. Nimm nun Platz auf einer der Bänke, genieße die Aussicht und philosophiere über das Leben oder den englischen Landschaftsgarten oder genieße einfach die himmlische Ruhe im Bergpark Wilhelmshöhe.
Noch mehr Wissen über den Landschaftsgarten…
Zu guter Letzt kannst du noch ins Mittelalter abtauchen. Die Löwenburg haben wir am Anfang unseres Spaziergangs schon einmal von unten gesehen. Sie wurde Ende des 18. Jahrhunderts als scheinbarer Stammsitz des Hauses Hessen und als Grablege für Landgraf Wilhelm IX, dem späteren Kurfürst Wilhelm I. erbaut. Über dem Tor auf der Südseite und im Mosaik im Innenhof soll die Jahreszahl 1495 auf das fiktive Baudatum hinweisen.
Wenn du nun auf der Südseite die Löwenburg verlässt, gehst du links den Berg runter und kommst am Wunschtörchen vorbei zum Ausgangspunkt an die Mulangstraße.
Du willst noch mehr über das UNESCO-Weltkulturerbe Bergpark Wilhelmshöhe erfahren? Dann schau mal bei meinen Führungen vorbei.