MIKROABENTEUER
Espresso-Wanderung
Nein, ich habe mir nicht das schicke, sauteure Lederköfferchen mit integriertem Espressokocher gekauft, was ich einmal bei einem Herrenschneider im Schaufenster gesehen habe. Während dieser Wanderung wird auch nicht an jeder Ecke Espresso getrunken, auch wenn dies, für einen Espressojunkie wie mich, eine Variante wäre. Aber fangen wir von vorne an…
Auf der Suche nach einer neuen Idee für ein Mikroabenteuer vor der Haustüre, habe ich auf Katrins Reiseblog viel-unterwegs.de einen Tipp gefunden. Man nehme ein Glas oder wahlweise eine Tasse und eine Wanderkarte und schon hat man eine grobe Wanderroute. Sogleich dachte ich an meine Lieblingstasse, hatte jedoch Sorge, dass die Runde ein wenig zu groß werden würde. Also nahm ich meine Lieblings-Espressotasse, eine Wanderkarte im Maßstab 1:25.000, auf der Kassel eingezeichnet ist und einen Stift. Den Mittelpunkt der Tasse setzte ich ungefähr dorthin, wo ich wohne und zeichnete den Rand der Tasse nach. Nun noch die Straßen etwa entlang der Linie wählen und fertig war die ca. 11 km lange Wanderung durch die Stadt. 11 km sind okay.
Die Wanderung
Ich will nicht genau beschreiben wo ich lang gegangen bin, denn es soll ja nur eine Idee sein, wie Du eine Wanderroute vor deiner Haustüre planen kannst. Als Sportwanderer nimmst du vielleicht statt der Espressotasse eine Untertasse oder als unerfahrener Einsteiger statt der topographischen Wanderkarte einen Stadtplan im mit einem größeren Maßstab.
Hier möchte ich meine Eindrücke schildern, das Feeling beschreiben und ein paar Besonderheiten herausgreifen. Denn im Nachhinein war ich so beeindruckt, dass ich über die Orte recherchiert habe. So lernte ich die Stadt in der ich lebe, nicht nur orientierungsmäßig, sondern auch geschichtlich besser kennen. Ganz allgemein war ich von der Verschiedenheit der fünf Stadtteile, die ich durchquert habe, überrascht. Alte Fachwerkhäuser, gehobene Bürgerhäuser der Gründerzeit, ehemalige Kasernen, die von Familien bewohnt werden und eine Arbeitersiedlung. Einiges kannte ich schon, aber an manchen Orten hatte ich vorher nie so genau hingeschaut.
Der Ortskern von Wehlheiden, erstmals 1143 erwähnt und 1899 in die Stadt Kassel eingemeindet, hat einen sehr dörflichen Charakter. Hingegen zeigen die Gründerzeitvillen im Vorderen Westen die Stadtentwicklung im Industriezeitalter. Ansonsten ist meine Umgebung von den 1930er und 1940er Jahren geprägt. Die Heinrich-Schütz-Schule 1930 als Malwida-von-Meysenbug-Schule eingeweiht und nach den Plänen von Heinrich Tessenow gebaut. Das Bundessozialgericht 1938 als Dienstgebäude für das Wehrmachtskommando eingeweiht. Der Magazinhof 1939/40 als Lager für Getreide und Lebensmittel für die Wehrmacht errichtet.
Eine besonders tragische Geschichte ist die Ermordung von 78 italienischen Kriegsgefangenen am 1. April 1945. Sie hatten sich Lebensmittel aus einem verlassenen Güterzug am Bahnhof Wilhelmshöhe genommen. Heute liegen sie in einem Sammelgrab auf dem Friedhof Wehlheiden und eine Gedenkstätte am Ort der grausamen Tat erinnert an sie.
Nicht nur Tragik findet sich am Wegesrand, sondern auch Schönes, wie der Botanische Garten im Park Schönfeld und eine Eisdiele. Und hinter dem Brunnen auf dem Wehlheider Platz von Heinrich Brummack steckt eine lustige Geschichte. Passend zum Wochenmarkt wurden hier ein im Sommer brodelnder roter Kochtopf (im Winter ist er mit einem Deckel verschlossen) und zwei fette goldene Birnen aufgestellt. Auf die an den Künstler gerichtete Frage, warum er sich für Birnen entschieden hätte, soll er geantwortet haben, dass die Kirsche und die Erdbeere ihm eine zu große Versuchung sei und der Apfel hätte der Menschheit nur Unglück gebracht.
Du siehst, auch wenn du glaubst deine Stadt oder deine Umgebung zu kennen, es gibt viel zu entdecken. Bleib neugierig!